Einleitung
Hans Wesely (1930–87) war im deutschen Südwesten seit den späten 1960er-Jahren ein vielbeachteter Maler und gilt als einer der letzten Meisterschüler Willi Baumeisters. Sein immer wieder auf neue Weise zwischen dem Informel und konstruktiven Tendenzen changierendes Werk zeigt viele Facetten: Der Spannungsbogen reicht von frühen Materialbildern Abb. 1Abb. 1
über großformatige, schwarzweiße Faltungs- und Quetschungs-Illusionen Abb. 2Abb. 2
bis hin zu gestisch-tachistischen Farbexpressionen in seinem Spätwerk Abb. 3Abb. 3
.
Als Mitglied der jungen Nachkriegsavantgarde ist Wesely ganz und gar Spiegel seiner Zeit. Dass er heute nur einem relativ kleinen Kreis von Sammlern und Kunsthistorikern bekannt ist, liegt unter anderem an der Tatsache, dass Wesely seine Arbeit nicht an Trends knüpfte und sogar mit seinen auf dem Kunstmarkt etablierten „Markenzeichen“ brach, wenn ihm das künstlerisch geboten schien. Zudem beteiligte er sich nicht an der „Baumeisterschüler“-Ausstellung 1969 in Wuppertal und Bremen, die einige ehemalige Studenten des 1955 verstorbenen Stuttgarter Akademie-Lehrers ins Rampenlicht hob.
Zeitungsartikel und andere Dokumente aber belegen, dass der seit 1957 in Bisingen bei Hechingen lebende Maler erfolgreich ausstellte. Der Unternehmer und Sammler Paul Eberhard Schwenk aus Haigerloch, der später auch die PES Galerie im dortigen Schloss betrieb, wurde ihm ein wichtiger Förderer und Freund. Er schätzte Weselys Arbeiten und nahm sie in seine Sammlung auf, in der sich unter anderem Werke namhafter Künstler wie Fritz Winter oder Ben Willikens befanden.11
Der Kunstsammler und Mäzen Paul Eberhard Schwenk war Geschäftsführer der Firma Theben, einem Familienbetrieb in Haigerloch, für den Wesely 1967 einen Grafik-Auftrag ausführte. Im Archiv Wesely haben sich einige Dokumente erhalten, die diese Förderung dokumentieren (siehe auch weiter unten im Text). „Die beiden freundeten sich während der Arbeit an der Broschüre an und blieben einander über die Jahrzehnte sehr verbunden“, so Kathrin Wesely in einem Schreiben vom 10.3.2014 an den Autor.
Aber auch zahlreiche andere Käufer und öffentliche Sammlungen 22
Unterlagen aus dem Archiv Wesely belegen z.B. Ankäufe des Regierungspräsidiums Südwürttemberg-Hohenzollern (1968) und des Ministeriums für Unterricht und Kultus des Landes Rheinland-Pfalz (1971)., insbesondere aus dem südwestdeutschen Raum, schätzten Weselys Arbeit als zeitgeistig und markant.
Ziel dieser ersten Studie zu Hans Wesely ist es, sein Œuvre einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Annäherung basiert auf Arbeiten und Dokumenten, die sich im Familienbesitz erhalten haben (im Folgenden als „Archiv Wesely“ bezeichnet). Der Übersichtlichkeit halber ist die Darstellung in Kapitel und Unterkapitel gegliedert, die an den einzelnen Werkphasen orientiert sind. Eine kurze Vita rundet diese erste Darstellung über das Werk eines eigenwilligen Künstlers ab, den wiederzuentdecken sich lohnt.
1950–57
Studium und Begegnung mit Willi Baumeister
Ein eindrucksvoll von roten und gelben Schlieren durchzogener, bewölkter Nachthimmel vor dunklen Bäumen, ausgeführt in Gouache auf Papier Abb. 4Abb. 4
: Das auf das Jahr 1943 datierte Bild ist die erste erhaltene Arbeit des damals 13-jährigen Hans Wesely. Handelt es sich um die Impression einer in der Ferne brennenden Stadt im Zweiten Weltkrieg? Oder ist ein Sonnenuntergang dargestellt? Eindeutig lässt sich der Inhalt nicht bestimmen. Wichtiger scheint auch die Stimmung zu sein, die erzeugt wird. Der lockere Duktus, die Zusammenfassung des Dargestellten zu eher großflächigen, wenn auch in sich strukturierten Formen sowie die ungezwungen gehandhabte Farbgebung lassen – unabhängig vom Sujet – schon zu diesem Zeitpunkt einen künstlerischen Ansatz erahnen, der einen freien Umgang mit den malerischen Mitteln bevorzugt.
Mit der ungezwungenen Handschrift dieser Jugendarbeit hat das zweite im Archiv Wesely erhaltene Bild zunächst nichts zu tun: eine Aquarellstudie, auf der farbige Kieselsteine sehr unterschiedlichen Charakters dargestellt sind Abb. 5Abb. 5
. Hier überzeugen die Präzision der Darstellung, das zeichnerische Geschick, aber auch die lebendige Kolorierung. Das Bild ist auf den 26. August 1952 datiert. Mit den handwerklichen Grundlagen der Zeichnung und Malerei hatte sich der angehende Künstler neun Jahre nach seiner Farbimpression offenbar schon ein gutes Stück weit vertraut gemacht.
1951–53
Von Kaiserslautern über Darmstadt nach Stuttgart
Tatsächlich befand sich der im Jahre 1930 in Kandel in der Pfalz geborenen Hans Wesely damals schon seit einem knappen Jahr in der künstlerischen Ausbildung. Zuerst hatte er sich für die Meisterschule für Handwerk in Kaiserslautern entschieden, wo er von Oktober 1951 bis März 1952 bei Carl Maria Kiesel eine halbjährige Einführung in die Gebrauchsgrafik erhielt. 33
Vgl. Semester-Zeugnis der Meisterschule für Handwerker Kaiserslautern vom 31.3.1952 sowie „Die Arbeit des Bauern – von einem jungen Künstler gesehen“, Pfälzischer Merkur, 5.7.1957Anschließend ging er zu Hanns Hoffmann-Lederer an die Werkkunstschule nach Darmstadt. Eine undatierte aquarellierte Straßenszene, die in ihrer aufgelösten Struktur an die Impressionisten erinnert Abb. 6Abb. 6
, sowie ein ebenfalls undatiertes Stillleben mit sich durchdringenden Formen und Gegenständen, bei dem (wenn die Farbe auch reiner und flächiger eingesetzt ist) wohl Juan Gris oder Georges Braque Pate gestanden haben dürften Abb. 7
Abb. 7
, fallen in diese Zeit der Grundlagenarbeit.
Wie diese frühen Studien nahelegen, zeigte sich Wesely schon früh interessiert für die verschiedenen Ausprägungen der Moderne und dürfte über Hoffmann-Lederer, einem Schüler Paul Klees, auch mit den Ideen des Bauhauses in Berührung gekommen sein. Doch gab es für den jungen Maler in Darmstadt bald kein Entwicklungspotenzial mehr: Nach zwei Semestern allgemein-künstlerischer „Vorlehre“ hatte er sich, wie es in der Beurteilung seines Lehrers heißt, „grafisch, aber auch farbig so ausgezeichnet“ entwickelt, dass Hoffmann-Lederer ihn für die Malereiklasse von Willi Baumeister an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart vorschlug. 44
Handschriftliche Beurteilung von Prof. Hanns Hoffmann-Lederer vom 7.5.1956, Archiv Wesely
1953–55
Bei Willi Baumeister an der Stuttgarter Akademie
Gemeinsam mit einem Freund, der dort Physik studieren wollte, reiste Hans Wesely 1953 also in die noch von Kriegszerstörungen gezeichnete Hauptstadt des neugegründeten Landes Baden-Württemberg und sprach bei Baumeister an der Akademie vor. Als Leitfigur der abstrakten Malerei in Deutschland befand Willi Baumeister sich zu dieser Zeit auf der Höhe seines Erfolges und war mit der internationalen Kunstwelt – insbesondere mit Frankreich – bestens vernetzt. 55
Vgl. z.B. den Ausstellungskatalog: willi baumeister international, Schriften des Archiv Baumeister im Kunstmuseum Stuttgart, Band 4, Berlin/München 2013 Gleichzeitig brachte er in seiner Lehre als ein dem Bauhaus nahestehender Künstler auch dessen Prinzipien ein. Kunst war seiner Auffassung nach weder lehr- noch lernbar. Anders als seine Kollegen an der Akademie pflegte er einen unkonventionellen Unterricht, in dem es ihm darum ging, seinen Schülern „Anregungen zu geben, Begeisterung zu wecken“, und sie mit den handwerklichen Grundlagen der künstlerischen Arbeit vertraut zu machen. 66
Vgl. „Die Stuttgarter Professur 1946–1955“, in: www.willi-baumeister.org
Seine besondere Fähigkeit, individuell auf seine Schüler einzugehen, anstatt ihnen eine feste Lehrmeinung aufzudrängen, findet in vielen Erinnerungen eine positive Resonanz – ebenso das väterliche Verhältnis zu seinen Studenten, das trotz des hohen Anspruchs an die Arbeit stets von Warmherzigkeit und Toleranz geprägt war. 77
„Klaus Bendixen: ‚Dekorativ‘ - das war tödlich“, in: www.willi-baumeister.org Das erlebte auch Hans Wesely so (dessen eigener Vater schon in den ersten Wochen des Zweiten Weltkriegs gefallen war): Da der angehende Student noch keine Bleibe hatte, „quartierte ihn Baumeister erst einmal bei sich ein“. Auch lud er ihn und seine Freundin Ingeborg später „mal sonntags zum Essen ein und wies seine Frau ab und zu an, meinem Vater fünf Mark zuzustecken, ‚damit der Wesely was zu Essen hat‘“, erinnert sich die Tochter des Malers. „Mein Vater hat Baumeister sehr gemocht – seine Warmherzigkeit, seine mitfühlende und großzügige Art.“ 88
Kathrin Wesely in einem Schreiben vom 16.11.2013 an den Autor
„Wir malen keine Bilder, wir studieren“
In seinem Unterricht ging es Baumeister – anknüpfend an die Pädagogik am Bauhaus – um „das studium der elementaren mittel“, die er als Grundlage der freien wie auch für die angewandten Künste auffasste. Die Akademie war für ihn Ausbildungsstätte, kein Ort, wo fertige Arbeiten ausgestellt würden. Viele ehemalige Schüler erinnern sich noch an sein Diktum „Wir malen keine Bilder, wir studieren“. 99
Studien sollten laut Baumeister nicht signiert werden; das war Arbeiten vorbehalten, die gut genug waren, für sich selbst zu stehen. Vermutlich aus diesem Grund sind auch die Arbeiten Weselys, die während seines Studiums an der Stuttgarter Akademie entstanden, nicht signiert. Baumeister wollte seine Studenten darin schulen, im Laufe des Arbeitsprozesses zu „künstlerischen formerfindungen“ vorzustoßen, die er mit wissenschaftlichen Entdeckungen oder neuen philosophischen Erkenntnissen gleichsetzte. Dazu galt es ihm, die bildnerische Problemstellung zu vereinfachen und die Mittel zu beschränken. 1010
Vgl. „Die Stuttgarter Professur 1946–1955“, in: www.willi-baumeister.org In diesem Ausbildungskontext darf man wohl eine Reihe von Collage-Studien sehen, die sich im Archiv Wesely erhalten haben und sich mit kompositorischen Fragen in Bezug auf Rhythmus und Hell-Dunkel-Kontraste beschäftigen. Abb. 8Abb. 8
Vom Sommersemester 1953 bis zum Wintersemester 1954/55 war Hans Wesely bei Baumeister eingeschrieben, zeitweise auch als Meisterschüler, wie aus einem Artikel des Pfälzischem Merkur aus dem Jahr 1956 hervorgeht. 1111
Vgl. „Willi Baumeisters letzter Meisterschüler“, in: Pfälzischer Merkur [ohne Tages- und Monatsangabe], 1956 Jenseits der Korrekturstunden war diese Zeit auch geprägt von mindestens einer Exkursion Baumeisters mit seinen Studierenden nach Paris.1212
Telefongespräch des Autors mit Kathrin Wesely im Oktober 2013 Dank seiner guten Kontakte hatten die angehenden Malerinnen und Maler dort neben dem Besuch von Ausstellungen und Museen auch die Möglichkeit, Künstler aus dem Freundeskreis ihres Lehrers kennenzulernen.
Vielleicht unter anderem dank der Paris-Exkursion sind die Arbeiten aus Weselys Studienzeit bei Baumeister auch von anderen Vorbildern der Vor- und frühen Nachkriegsmoderne geprägt. Eine Arbeit in Öl auf Leinen aus dem Jahre 1955 Abb. 9Abb. 9
etwa zeigt mit ihren kleinteiligen, geometrischen Formen und Flächen aus kontrastierenden Primärfarben vor einem blaugrünen, amorphen Hintergrund den Einfluss des späteren Wassily Kandinsky. Eine Studie aus demselben Jahr hingegen, deren rechteckige Flächen in gebrochenen Rot- und Rosé-Farbtönen so zueinander ins Verhältnis gesetzt sind, dass rhythmische Ausgewogenheit und die Illusion von Räumlichkeit entsteht Abb. 10Abb. 10
, erinnert an die frühe École de Paris – etwa an Nicolas de Staëls „Figure au bord de la mer“ von 1952. Wie dort wird auch bei Wesely durch das Zusammentreffen zweier Hintergrundflächen eine Horizontlinie gebildet, die das Motiv „Landschaft“ latent ins Spiel bringt. Die Eindeutigkeit der Repräsentation wird durch die Eigenwirkung der elementaren künstlerischen Mittel jedoch stärker verunklärt als bei de Staël – ein Merkmal, das, wie noch gezeigt wird, auch Weselys Arbeiten der 1970er- und 1980er-Jahre auszeichnen sollte.
Zugleich suchte Wesely seinen eigenen Weg in der Auseinandersetzung mit seinem Lehrer. Etwa in einer im Archiv Wesely erhaltenen Arbeit ohne Titel Abb. 11Abb. 11
, deren organische Formen an Baumeisters um 1934 entstandene „Sportbilder“ erinnern, sie aber in eine surrealistisch anmutende Gegenstandslosigkeit überführen. Auffällig in diesem Zusammenhang ist auch ein 1954 entstandenes Ölgemälde Abb. 12Abb. 12
, das aufgrund einer großen, den Bildraum weitgehend ausfüllenden dunklen Fläche, an Baumeisters späte „Montaru“-Bilder erinnert. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch, dass es sich – anders als dort – nicht um eine, sondern um zwei an den Rändern angeschnittene, aufeinanderstoßende Flächen handelt. In deren oberem Bereich entsteht eine Art Spalt, in den kleine geometrisierend-abstrakte Formen hineinzufallen scheinen. Das hier von Wesely erstmals verwendete Motiv des Spaltes wird – modifiziert – ebenfalls in Arbeiten aus den 1970er-Jahren eine Rolle spielen.
1955 schied Willi Baumeister offiziell aus dem Lehrbetrieb der Akademie aus. Zwar gab er nach wie vor Unterricht, doch verstarb er im August desselben Jahres. In seiner abschließenden Beurteilung vom 22. Februar 1955 ließ er seinem Eleven Hans Wesely noch bestätigen: „Er war einer meiner besten Schüler“ und „selbstverständlich sehr fleißig“. 1313
Beurteilung von Prof. Willi Baumeister vom 22.2.1955, beglaubigte Abschrift vom 14.5.1956, Archiv Wesely; auch Hoffmann-Lederer schreibt in der Beurteilung vom 7.5.1956 (Archiv Wesely): „Wiederholt sagte mir Prof. Baumeister, wie hervorragend Herr Wesely sich entfaltet habe und daß er sein bester Schüler sei.“
1956/57
Auf eigenen Füßen in Urach
Noch während seiner Zeit als Student an der Akademie der Bildenden Künste hatte Hans Wesely seine zukünftige Frau Ingeborg kennengelernt, die aus Niedersachsen nach Stuttgart gekommen war. Beide genossen das Leben in der Großstadt, unter deren Trümmern sich in Bars wie der „Katakombe“ oder der „Tube“ die Kunst- und Kreativszene traf.1414
Kathrin Wesely in einem Schreiben vom 16.11.2013 an den Autor Nach Baumeisters Tod zog das junge Paar nach Urach an den Fuß der Schwäbischen Alb, da Ingeborg dort eine Stelle an einer Schule bekommen hatte, was ein regelmäßiges Einkommen garantierte. Der Gedanke, es sei egal, wo man sich niederlasse, Hauptsache, es sei ein Atelier da, erwies sich allerdings bald als Illusion. Hans Wesely „vermisste den Austausch mit Kollegen und Gleichgesinnten, ihm fehlte die Inspiration der Großstadt“. 1515
Kathrin Wesely in einem Schreiben vom 16.11.2013 an den Autor In einer kaum beheizbaren Scheune lebend, bestritt das seit Oktober 1956 verheiratete Paar 1616
Vgl. Hans Weselys Kirchenaustrittserklärung vom 27.11.1973, Archiv Wesely, das mit dem gemeinsamen Sohn Stefan 1957 auch sein erstes Kind bekam, unter großen Entbehrungen das frühe Familien-Dasein. Dennoch ging Hans Wesely seinen künstlerischen Weg weiter und nutze die sich nun bietenden Möglichkeiten seiner Selbständigkeit.
Schon in seiner Studienzeit hatte Wesely begonnen, sich an Ausstellungen zu beteiligen, auch bekam er nun immer wieder Artikel in Zeitungen – besonders in seiner pfälzischen Heimat 1717
Vgl. z.B. „Willi Baumeisters letzter Meisterschüler“, in: Pfälzischer Merkur [ohne Tages- und Monatsangabe] von 1956; oder „Die Arbeit des Bauern – von einem jungen Künstler gesehen“, in: Pfälzischer Merkur, 5.7.1957, wo er 1957 auch beim Pfalzpreis in der Landesgewerbeanstalt Kaiserslautern Beachtung fand. 1818
Vgl. „Malernachwuchs beim Pfalzpreis-Wettbewerb“, in: Rheinpfalz, 20.11.1957 Der wirtschaftliche Erfolg fokussierte sich zunächst auf Kunst-am-Bau-Aufträge – angewandte künstlerische Projekte, die Baumeister seinen Schülern zur Schaffung eines wirtschaftlichen Standbeins sehr ans Herz gelegt hatte. Unter anderem schuf Wesely bis 1957 eine ganze Reihe von Mosaiken – sowohl in seiner neuen schwäbischen, als auch in seiner alten Heimat, der Pfalz. 1919
Vgl. „Die Arbeit des Bauern – von einem jungen Künstler gesehen“, in: Pfälzischer Merkur, 5.7.1957; dort ist von Mosaiken für die Berufsschule in Urach, für eine Volksschule in der Nähe von Tübingen und für die landwirtschaftliche Berufsschule in Rosenkopf, einem Ort in der Nähe von Weselys Heimatstadt Zweibrücken, die Rede.
Vielleicht inspiriert von der Monochromie der Platten, aus denen er die Mosaiksteine für seine Auftragsarbeiten brach 2020
Dass er aus künstlerischen Gründen selbst die Mosaiksteine brach, davon berichtet z.B. der Artikel „Die Arbeit des Bauern – von einem jungen Künstler gesehen“, Pfälzischer Merkur, 5.7.1957, experimentierte er um das Jahr 1956 in einer Gruppe von Bildern mit deckend eingesetzten Primär- und Sekundärfarben. Längliche rote, gelbe, blaue und grüne Flächen werden von kräftigen schwarzen Konturen und Linien umfasst oder durchzogen Abb. 13Abb. 13
. Mit ihren hakigen Auswüchsen scheinen sie wie Figuren vor einer durch einen Sonnenkreis angedeuteten Landschaft zu stehen und rufen Assoziationen an die vibrierenden Kompositionen des erst in den 1980er-Jahren tätigen Keith Haring wach.2121
Andere Arbeiten der Werkgruppe (z.B. Abb. 14) erscheinen ganz ohne gegenständlichen Bezug. Zwar greifen diese Bilder ein Formenrepertoire auf, wie es in Baumeisters Illustrationsfolgen (zum Beispiel „Saul“) oder in seinen Malereien aus den frühen 1940er-Jahren erscheint. Die expressiv-plakative Ausformung bei Wesely ist für die Mitte der 1950er-Jahre allerdings ungewöhnlich – auch in Bezug auf seine eigenen zeitgleichen Arbeiten. Erst in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre sollte Wesely intensive und monochrome Farbtöne wieder ähnlich großflächig einsetzen – dann allerdings vor dem Hintergrund eines stark veränderten künstlerischen und gesellschaftlichen Hintergrundes.
1958–65
Zwischen Informel und konstruktiven Tendenzen
Noch im Jahre 1957 zog die junge Familie von Urach in ein altes Schulhaus nach Bisingen in der Nähe von Hechingen. Ingeborg Wesely war an die dortige Hauswirtschaftliche Berufsschule versetzt worden. 2222
Vgl. den Artikel „Den Horizont explosiv durchbrechend“, in: Hohenzollerische Zeitung, 4.5.1985 Hans Wesely verdiente sich seinen Part am gemeinsamen Lebensunterhalt mit Zeichnungen für Werbeprospekte und mit weiteren Kunst-am-Bau-Projekten. 2323
„Wenn die Kunst der Palette ihren Mann nicht ernährt ...“, in: Pfälzischer Merkur, 26.11.1958; in dem Artikel ist u.a. von Fenstern für eine Kirche in Zuffenhausen, Arbeiten für das Rathaus in Metzingen und ein Schulhaus in Balingen sowie von einem Sgraffito für die Bezirksberufsschule in Germersheim die Rede. Sein eigentliches Interesse galt aber nach wie vor der Malerei. Baumeisters Tod, der Wegzug aus Stuttgart, die Geburt des ersten Kindes sowie die beruflichen Reisen in die Pfalz hatten zwei Jahre lang viel Unruhe in sein noch junges Schaffen gebracht. In Bisingen angekommen, gelang es Wesely, mit seinen Arbeiten wieder an seine Stuttgarter Zeit anzuknüpfen, und er unternahm bedeutende Schritte auf dem Weg zu seiner eigenen Formensprache.
1958/59
Materialbilder
So entstehen ab 1958 Materialbilder mit reliefartigem Untergrund. Abb. 15Abb. 15
Sand, Kunstharz, wohl auch Spachtelkitt oder Sägespäne bilden die raue Oberfläche, auf der ein in großzügigen Gesten roh ausgebreiteter Hintergrund monochrome, teils geometrisierende Formen trägt – verbunden oder konturiert durch in den Malgrund eingravierte, sich ihren Weg „suchende“ Linien. Flächige Vertiefungen sind in den oft erdig-grauen Untergrund eingegraben, so als würden Farbflächen „archäologisch“ in Schichten übereinander lagern Abb. 16Abb. 16
. In den Malgrund eingekerbte kurze Striche wirken wie verletzende Eingriffen und lassen die Bilder als Aktionsfelder divergierender Kräfte im Spannungsfeld von Ordnung und Chaos – vor dem Hintergrund einer jahrhundertealten Geschichte – erscheinen.
Schon am Ende seiner Studienzeit hatte Wesely mit Materialuntergründen experimentiert. 2424
Die Verwendung unterschiedlicher, anschließend übermalter Materialien wie Wellpappe oder Sand, die ihren ästhetischen Wert in die Komposition einbrachten, findet sich schon in einer Collage von 1955 (Abb. 17); das Bild hatte Wesely bei der Pariser Monatszeitschrift „La Revue Moderne – Des Arts et de la Vie“ eingereicht, die es 1959 in der Februar-Ausgabe, verbunden mit einem kurzen Artikel über die Ausstellung in der Landesgewerbeanstalt in Kaiserslautern (er war der einzige daraus vorgestellt Künstler), unter dem Titel „Composition“ veröffentlichte; vgl. „Exposition de Kaiserslautern“, in: La Revue Moderne, 1.2.1959, S. 20 Seit den frühen „Mauerbildern“ war bei seinem Lehrer schließlich selbst Sand zum Einsatz gekommen. Ging es bei Baumeister in den 1930er- und 1940er-Jahren um die Schaffung eines „konstruktiven“ Untergrunds „zur Vergegenwärtigung mythischer Archaik“ 2525
Karin Thomas: Stilgeschichte der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts, Köln 1994, S. 220, erweist sich die Verwendung des pastos-reliefartigen Materialauftrags bei Wesely – trotz der Reminiszenzen an seinen Lehrer – als unbändiger und freier. Mit der Betonung des Gestischen und Spontanen ist ein Bezug zur informellen Malerei wahrnehmbar, der es in ihren wilden Farbgebärden und Graphismen, in ihren Bezügen zum Surrealismus und zum frühen Expressionismus eines Kandinsky um die „Suche nach einer neuen Ursprünglichkeit jenseits der zivilisatorisch reglementierten Welt“ ging. 2626
Ingo F. Walther (Hg.): Kunst des 20. Jahrhunderts, Teil 1: Malerei (von Karl Ruhrberg), Köln 2012, S. 252
Man darf annehmen, dass Wesely Arbeiten von Jean Fautrier, Jean Dubuffet oder Antoni Tàpies gesehen hatte, die sich auf jeweils ganz unterschiedliche Weise reliefartig erhöhter Farbaufträge bedienten. Auch kannte der junge Maler gewiss die tachistisch-aktionistische Ausrichtung des Informel, die in Westdeutschland mit dem in Paris lebenden Maler Wols ihren Siegeszug angetreten hatte. Doch anders als etwa Weselys älterer Zeitgenosse Emil Schumacher 2727
Emil Schumacher war z.B. 1957 in der Ausstellung „Eine neue Richtung der Malerei“ in der Kunsthalle Mannheim zu sehen., der in seinen teils eruptiven Kompositionen auf krustenartigen Malgründen gestische Schriftzeichen einschrieb und dabei eine, wie Karin Thomas sich ausdrückt, „sensible Vermittlung von expressiver abstrakter Gebärde und suggestiver Malmaterie“ 2828
Karin Thomas: Stilgeschichte der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts, Köln 1994, S. 221 leistete, war Wesely Ende der 1950er-Jahre – wie viele Maler im deutschen Südwesten – eher um einen Ausgleich von gestischer Spontaneität und formgebender Ordnung bemüht.
Selbst seine vielleicht düsterste Arbeit aus dieser Zeit, in der sich ein von Kratern und Furchen durchzogener, ausgefranster „Mond“ vor einen dunkelbraunen Hintergrund schiebt – mit dem er zugleich untrennbar verbunden scheint – wirkt bei aller expressiver Gebrochenheit durch die Kreisform gefasst. Eine stärkere Auflösung der Form findet sich nur in einem im Archiv Wesely erhaltenen Bild jener Zeit Abb. 18Abb. 18
: Ein gestisch übereinandergeschichtetes Geflecht schwarzer Linien bildet das zentrale Element, das sich – weiße und gelbe Flecken um- und überlagernd – aus einem in eine dunkle und eine helle Hälfte geteilten Hintergrund herausarbeitet. Helle Partien werden ein Stück weit ins Dunkle gewirbelt und umgekehrt. Die im Zentrum des Bildes wirkenden Kräfte lassen den Betrachter die Anstrengung, sich in einer von extremen Gegensätzen geprägten (Bild-)Welt zu behaupten, beinahe physisch nacherleben. Einen wenn auch fragilen Halt bieten die – bewegte – Horizontlinie und mit ihr die Ausgewogenheit der Gesamtkomposition.
Zuweilen stand für Wesely in den späten 1950er-Jahren das konstruktive Element gegenüber dem Gestischen aber auch deutlich im Vordergrund – etwa in seiner „Peinture 1958/17“ Abb. 19Abb. 19
. Große, durch gerade Begrenzungen gekennzeichnete Flächen fügen sich darin zu einer ausgewogenen Komposition, die von verschiedenen Kontrasten lebt: hell/dunkel, farbig/schwarzweiß, glatt/körnig und flächig-deckend/formlos-bewegt. 1959 beginnen die eher konstruktiv-geometrischen Elemente dann aus den Bildern zu verschwinden und machen länglichen, amorphen Formen mit seitlichen Auswüchsen Platz, die senkrecht vor einer diffus-bewegten Hintergrundfläche zu schweben scheinen. Vorbereitet in Schwarzweiß-Studien Abb. 20Abb. 20
und in „gekritzelten“ Farbzeichnungen Abb. 21Abb. 21
setzt sich nun Stück für Stück auch wieder eine kräftigere und farbintensivere Palette durch Abb. 22Abb. 22
.
1960/61
Rhythmische Strukturen
In den frühen 1960er-Jahren verbinden sich die Einzelflächen in den Arbeiten Weselys zu komplexen, wabenartigen Verschachtelungen. Dicke Linien und Balken bilden rhythmische Strukturen. Die geraden Striche erscheinen als gestisch-spontane Setzungen und überschneiden sich an ihren Kreuzungspunkten. Neben einer eher zum Schwarzweiß tendierenden Palette, sind Rot- und Blautöne die dominierenden Farben. Kreide, Kohle und Gouachefarben (unter anderem auf Büttenpapier) kommen ebenso zum Einsatz wie Eitempera und Tusche. Durch Überlagerungen und Höhungen entsteht besonders in den Schwarzweißarbeiten eine fast ans Skulpturale grenzende Räumlichkeit Abb. 23Abb. 23
). Bei der druckgrafischen Umsetzung (etwa als mehrfarbiger Holzschnitt Abb. 24Abb. 24
) macht die Verräumlichung einer Flächenkomposition Platz, die in der ruhigen Ausgewogenheit ihrer Rot-Blau-Kontraste an Kirchenfenster erinnert: Die einzelnen Farbflächen sind hier von einem Geflecht unregelmäßig breiter, sich zu einer gitterartigen Struktur zusammenfügenden Linien eingefasst und brechen nur an wenigen Stellen aus den vorgegebenen Rahmen aus.
Ob die Arbeiten dieser Zeit durch die Beschäftigung mit Glasfenstern für Kirchenräume inspiriert wurden, ist aufgrund entsprechender Entwürfe zumindest denkbar. Allerdings hatten diese Auftragsarbeiten ein figuratives Bildprogramm. 2929
Vgl. den Artikel im Pfälzischer Merkur vom 26.11.1958 oder „Herrliche Glasmalerei im Thalheimer Leichenhaus“, in: [Artikel ohne Herkunftsangabe], Archiv Wesely Vielleicht lassen sich die Umsetzungen auf Papier daher auch als Versuch deuten, das in den Kirchenfenstern Erübte in die Abstraktion zu überführen. Sicherlich aber gibt es auch grundsätzliche Bezüge zu Zeitgenossen im deutschen Südwesten, die sich mit ähnlichen Fragen auseinandersetzten (man denke im Bereich Skulptur etwa an Otto Herbert Hajeks „Raumknoten“). Dass Weselys Arbeiten dieser Periode in der Kunstwelt durchaus auf Resonanz stießen, belegt jedenfalls seine vermutlich erste Einzelausstellung mit Gouachen und Grafiken, die Jean Bleichenbacher im Jahr 1961 in der Galerie Kirchgasse in Zürich ausrichtete. 3030
Vgl. die Einladungskarte der Galerie (Archiv Wesely) sowie einen Artikel in der Züricher Zeitung „Volksrecht“ vom 8.5.1961; die Ausstellung dauerte vom 26.4. bis zum 10.5.1961. Ende 1960 war Wesely zudem in einer Ausstellung des Kulturamts Zweibrücken vertreten; vgl. Pfälzischer Merkur, 13.12.1960
Parallel beschäftigte sich Wesely auch mit sehr viel lyrischeren Kompositionen. Das zeigt eine in weißen und bläulichen Pastelltönen gehaltene kleine Ölmalerei mit roten und gelben Höhungen aus dem Jahr 1961 Abb. 25Abb. 25
. Das Schwarz tritt hier als dunkle runde Fläche in den Hintergrund, vor der geometrisierende Formen wie zu schweben scheinen und sich zum Rand hin in einer Art diffusen Nebels verlieren. Das Bild erinnert an zeitgleiche Arbeiten des in Hüfingen-Fürstenberg lebenden Maler Emil Kiess, der wie Wesely im Jahre 1930 geboren worden war und 1952/53 unter anderem bei Baumeister studiert hatte. 3131
Vgl. z.B. Günther Wirth: Kunst im deutschen Südwesten – Von 1945 bis zur Gegenwart, Stuttgart 1982, S. 72/73 Doch entwickelten sich beide in gänzlich andere Richtungen weiter. Bei Wesely prägte sich die hier angelegte Verdichtung insbesondere rundlicher Formen ab Mitte der 1960er-Jahre zu einem regelrechten Erkennungsmerkmal seiner Arbeiten aus. 3232
Auch in manchen Zeichnungen wird das in dieser Zeit vorbereitet (Beispiel)
1961–65
Stillleben
Formal setzte Wesely um 1962 die Arbeit mit seinen kräftigen, aus mehrfachen Strichen zusammengesetzten schwarzen Konturlinien fort. Allerdings verließ er in dieser Zeit überraschend die bislang verfolgte Ungegenständlichkeit in der Darstellung: Flaschen, Krüge, Gläser, Zigaretten, Aschenbecher wachsen nun plötzlich vor einem oft blutrot gehaltenen, zuweilen nur durch Rechtecke oder wenige Striche angedeuteten Hintergrund aus den Konturen heraus Abb. 26Abb. 26
. Häufig scheint es so, als wollte der Künstler die Gegenstände durch wiederholtes Überzeichnen bis zur Unkenntlichkeit ausstreichen, was sie aber nur umso fester in den Bildgrund fügt Abb. 27Abb. 27
.
Die Arbeiten wirken düster und bedrohlich – trotz des vordergründig so unspektakulären Sujets. Möglicherweise eine Reaktion auf seine in dieser Zeit schwierige familiäre Situation: Weselys erster Sohn war im dritten Lebensjahr schwer erkrankt. Wie sich nach einer langen Odyssee zu Ärzten und Kliniken herausstellte unheilbar – ein schwerer Schicksalsschlag, der seinen Widerhall fand in einer düsteren, scharfkantigen Formensprache. Die Geburt des zweiten Sohnes Daniel im Jahre 1959 bedeutete ihm Trost. Für Hans Wesely kam nun aber zur Pflege des behinderten ersten Kindes die Betreuung des zweiten Sohnes hinzu. Seine Frau Ingeborg konnte als Verdienerin des Familieneinkommens nicht die hinreichende Zeit erübrigen. 3333
Vgl. die Schreiben Kathrin Weselys vom 16.11.2013 und 10.3.2014 an den Autor
Schon ab dem darauffolgenden Jahr beginnen die gegenständlichen Figurationen in den Stillleben sich jedoch wieder Stück für Stück aufzulösen. Die Palette umfasst jetzt neben weißen, schwarzen und grauen auch Blau-, Grün-, Violett- oder Ockertöne: Leichtere Striche und Konturen durchziehen den Bildgrund, Schattierungen und Höhungen lassen Körper aufscheinen, die als fast kubistisch anmutendes rhythmisches Bildgeflecht nur noch entfernt an Flaschen und Gläser erinnern Abb. 28Abb. 28
. Auch ein Stillleben, das Hans Wesely für den Hugo-von-Montfort-Preis 1966 in Bregenz einsandte, fällt in diese Phase der Auflösung. Und so heißt es in einem Artikel über die Schau im Palais Thurn und Taxis wörtlich: „Daneben bewahrt der aus Kandel gebürtige Hans Wesely mit seinen zerfließenden Farben doch Rudimente des Geschauten“. 3434
„Stillleben ist wieder eine malerische Aufgabe“, in: [Artikel ohne Herkunftsangabe], Archiv Wesely
Ein in Blau-Weiß gehaltenes, von leichten schwarzen Linien durchzogenes Aquarell aus dem Jahr 1965 scheint diese Art „kubistischer Rhythmisierung“ mit nur noch geahnten Bezügen zu einer Realität außerhalb des Bildes an einen Endpunkt zu führen: Möglicherweise sind darin menschliche Formen oder Gesichter angedeutet. Die transparent und leicht wirkende Komposition, die insgesamt eine Art Geste der Geborgenheit vermittelt, steht jedoch eindeutig im Vordergrund.
Um 1964
Text, Schrift und Graphismen
Lyrik und Malerei
Zeitgleich arbeitet Wesely um 1964 an einer gänzlich anderen Serie: Textfragmente, wissenschaftlich-mathematische Zeichen, Graphismen und Binnenzeichnungen, die an Planetensysteme, Sternbilder oder längst vergangene Kulturen erinnern, breiten sich über illusionistisch gemalte Papierhintergründe aus. Vergilbt, teils scheinbar mit groben Stichen notdürftig aneinandergeheftet und an ihren Rändern schwarz und brüchig, wie verkohltes Papier, entsteht der Eindruck, sie hätten Jahrhunderte an Geschichte überdauert. Sie eröffnen ein assoziatives Spiel mit Bezügen zur Urgeschichte der Menschheit, zu ihren Mythen und zu Fragen nach der Stellung des Künstlers und des Menschen in der Welt. Abb. 29, 30Abb. 29
Abb. 30
Manche der Texte sind entzifferbar, andere lösen sich in unlesbare Zeichen auf und entziehen sich – wie die wissenschaftlich-mathematischen Schaubilder, Skizzen und Begriffe – dem Verständnis des Betrachters: eine in Fragmente zergliederte Welt, deren Äußerungen er intellektuell nicht zu einer Einheit zusammenzufügen vermag. Auf ästhetischer Ebene jedoch transportiert sich die Realitätsschicht eines umfassenden Wissens, das sich – so der Anschein – in der Vergangenheit noch in Schriften niederlegen ließ.
Mittler eines solchen „unbewussten Wissens“, ist bei Wesely der Dichter. „Und keiner kennt die Stimme“, zitiert er aus Gottfried Benns Text für das mit Paul Hindemith geschaffene Oratorium „Das Unaufhörliche“ und verweist damit auf die Macht der Poesie, das Vergessene oder Unbekannte wieder „erklingen“ zu lassen (Abb. 29). Dass der Dichter dabei stellvertretend für den Künstler ganz allgemein stehen dürfte, ist naheliegend: „Der Lauf ist schiefergrau / Der Ton der Urgesteine / ... / im Schichtenbau“, lautet ein weiteres Textzitat auf demselben Bild aus Benns Gedicht „Am Brückenwehr“, das mit den Begriffen „schiefergrau“ oder „Urgesteine“ auf Topoi wie Archaik und Mythos etwa in der Kunst Willi Baumeisters verweist. Aber eben auch auf Weselys eigene künstlerische Praxis der späten 1950er-Jahre, als er in „archäologischen“ Schichten Farbton um Farbton setzte und sich dabei Materialien bediente, die auf die Erdgeschichte selbst Bezug nehmen.
In einer Tuschezeichnung aus demselben Jahr verbinden sich astronomische Symbole, Tabellen und Zeichnungen von Sternen und Sternbildern mit Verweisen auf die Kultur Altägyptens Abb. 31Abb. 31
: Ein großes Dreieck, gestützt von einer ägyptischen Säule mit Hieroglyphen, dominiert die Komposition. In der Mitte, am unteren Bildrand, befindet sich das Bruststück einer weibliche Figur mit geschlossenen Lidern, über der das Dreieck wie ein „kosmisches Weltgebäude“ zu schweben scheint. Auch dank der Buchstaben „SPH...“ ist die Figur als Sphinx gekennzeichnet. Ein Auge im oberen Drittel der Pyramide, mit den umgebenden Sternen in einer Konstellation verbunden, blickt den Betrachter scharf an, fast als gehöre es zu dem beängstigenden Drachen, dessen Sternbild am oberen Bildrand erscheint. Auch wenn hier der Bezug nicht über den Text selbst hergestellt wird, liegt der Bezug zu Charles Baudelaires Gedicht „Die Schönheit“ aus den „Blumen des Bösen“ nahe, mit denen Wesely sich in dieser Zeit befasste. Denn wie in dem Text des französischen Lyrikers bannt die rätselhafte Sphinx – als ehernes Symbol der Schönheit – mit ihren ewig klaren Augen und in ihrer kalten Unveränderlichkeit den Dichter, der sich mit seiner Kunst an ihrem Anspruch verzehrt. 3535
„Je suis belle, ô mortels! comme un rêve de pierre, / et mon sein, où chacun s’est meurtri tour à tour, / Est fait pour inspirer au poète un amour / éternel et muet ainsi que la matière / … Je trône dans l’azur comme un sphinx incompris; / ... Je hais le mouvement qui déplace les lignes, … / Les poètes, devant mes grandes attitudes / … Consumeront leurs jours en d’austères études; / Car j’ai, pour fasciner ces dociles amants, … / Mes yeux, mes larges yeux aux clartés éternelles!“, Auszug aus dem Gedicht „La Beauté“ von Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal/Die Blumen des Bösen, Stuttgart 1980, S. 40
Der Poet – oder allgemeiner gesagt: der Künstler –, so legen diese Bilder nahe, rührt bei Wesely dank seiner schöpferischen Tätigkeit an die Quellen eines unbewussten und umfassenden Wissens und ist daher – im Sinne Baumeisters – zu „künstlerischen formerfindungen“ in der Lage, die die Menschheit ebenso voranbringen wie wissenschaftliche Erfindungen oder philosophische Erkenntnisse. Im künstlerischen Prozess aber muss er immer wieder scheitern, was ihn dazu antreibt, stets von Neuem Wege in seiner ästhetischen Auseinandersetzung zu suchen.
Zeichen und Bild
Parallel zu den Arbeiten, die auf moderne Lyrik Bezug nehmen, arbeitet Wesely 1964 an einer Serie, in der er – wie andere Maler und Philosophen zur gleichen Zeit – die Frage nach dem Verhältnis von Schriftzeichen, Bedeutung und Bild stellt. Geometrisierende, in sich vibrierende Farbfelder, jeweils aus zwei kräftig leuchtenden Haupttönen aufgebaut, stehen schwarzen Linien gegenüber, die sich – in lockerem Duktus mit dem Pinsel gezogen Abb. 32, 33Abb. 32
Abb. 33
– zu asiatischen, teils zu lateinischen Schriftzeichen zu verbinden scheinen. Letztlich bleiben sie jedoch unentzifferbar. Auf den ersten Blick erinnern die Gouachen an Arbeiten des New Yorker Künstlers Adolph Gottlieb (vgl. etwa „Blast #1“ von 1957), doch bleibt sowohl im „Farbfeld“ als auch im „Zeichen“ der lebendige Duktus beherrschend, so dass sich beide Teile zu einem Gesamtbild fügen, in dem Ratio und Emotion, Vorstellung und visuelle Realität im Auge des Betrachters in einen Wettstreit treten: So wie die „Schriftzeichen“ bei längerer Betrachtung immer mehr von ihrer Zeichenhaftigkeit zugunsten ihrer elementar-malerisch Qualität verlieren, um dann wieder zu einer Art „Bedeutungshaftigkeit“ zurückzufinden, pulsieren auch die „Farbfelder“ zwischen tachistisch-gestischer Ausbreitung und der vorgefertigten Idee einer geometrisierenden Form.
1964–68/69
Im Reich der Rundung
Schon zu Beginn der 1960er-Jahre begann Wesely sich mit formalen Strukturen auseinanderzusetzen, die sich – über die gesamte Bildfläche erstreckend – aus geometrisierenden Formen zusammensetzen. 3636
Vgl. das Ende des Unterkapitels „1960/61 – Rhythmische Strukturen“ Standen zunächst gerundete und kantige Formen noch in einem gewissen Ausgleich zueinander, beginnen ab 1964 immer mehr blasen- oder fruchtartige Gebilde in unterschiedlicher Größe über den Bildgrund zu wuchern Abb. 34Abb. 34
. Traubenartig geballt, vereinen sie sich – etwa kombiniert mit linearen Strukturen – zu Kompositionen, die an Ausschnitte von Wald- oder Gartenlandschaften denken lassen Abb. 35Abb. 35
.
Zu den fruchtartigen Formen gesellen sich ab 1966 dann immer mehr Körperteile wie Brüste, pralle Arme oder stilisierte Beine, die sich – in Zeichnungen, Druckgrafiken und Arbeiten in Mischtechnik auf Papier – zuweilen zu monumental und plastisch erscheinenden (meist weiblichen) Figuren zusammenschließen Abb. 36Abb. 36
. Die frucht- und brustartigen Einzelformen werden dabei um organisch abgerundete Varianten aller Art ergänzt, die Figuration zum Teil auch wieder ganz aufgelöst Abb. 37Abb. 37
. Stark farbige Stillleben mit Früchten in Mischtechnik entstehen um 1967 Abb. 38Abb. 38
. Jedoch ist längst nicht immer auszumachen, ob es sich tatsächlich nur um Früchte handelt; die Form lässt auch hier Assoziationen an Brüste zu oder löst sich in den stark verdichteten Bereichen auch ganz vom Figurativen. Stattdessen vereinen sich diese lebendigen Ballungen des Prall-Rundlichen in ihrer teils überreifen Fülle im Auge des Betrachters zu einem umfassenden Sinnbild überbordender Fruchtbarkeit.
Über die Frage, ob in der Auseinandersetzung mit dem Thema auch die Geburt der Tochter Kathrin im Jahre 1968 mitschwingt, kann hier nur gemutmaßt werden. Die zeitliche Übereinstimmung ist jedenfalls gegeben. Zudem war die Familie 1966 in ein mit dem Architekten Klaus Thofern (Ingeborg Weselys Bruder) neu erbautes Haus in Bisingen gezogen, in dem der Maler sich sein Atelier nach eigenen Wünschen gestalten konnte. Kurz zuvor war auf Anraten der Ärzte der Sohn Stefan zur Betreuung nach Mariaberg gekommen, was für Hans Wesely bei aller Tragik auch eine Entlastung bedeutete. Das Thema Fruchtbarkeit könnte so seinen Ursprung zugleich in der wiedergefundenen künstlerischen Schaffenskraft haben. 3737
Vgl. die Schreiben Kathrin Weselys vom 16.11.2013 und 10.3.2014 an den Autor
Stilistisch wandeln sich die Arbeiten Weselys in den 1960er-Jahren von einer stabilen rhythmischen Struktur zu Beginn des Jahrzehnts hin zu einer immer offeneren Komposition, die zunächst zwischen Verdichtung und Auflösung zu atmen scheint: Ein souverän geführter Strich, ein durchgängig spontan-gestischer Duktus, aufgelöste Konturen – gehöht oder verschattet durch aufs Blatt geworfene Farbflecken – kennzeichnen die Arbeiten des Künstlers um 1967/68 Abb. 39Abb. 39
. In der Masse auf den Bildträger gruppiert, beginnen die Formen nun jedoch zugleich, sich gegenseitig zu erdrücken Abb. 40Abb. 40
– bis um 1969 durch Verdichtungen die anfänglichen Rundungen beinahe vollständig von Quetschungen, Verformungen und Faltungen ersetzt werden Abb. 41Abb. 41
. Die Lebenskraft ist hier Verfestigungsprozessen gewichen, die geologischen Prinzipien näherzuliegen scheinen als organischer Entwicklung.
Um 1968/69
Exkurse ins farbintensive Relief
Eine querformatige Zeichnung im Archiv Wesely aus dem Jahr 1968 fällt vor dem Hintergrund dieser in lockerem Duktus gearbeiteten Kompositionen aus dem Rahmen Abb. 42Abb. 42
: Linien teilen das Bild in Zonen auf; innerhalb eines senkrechten Streifens in der linken Bildhälfte sind – sehr fein mit Bleistift ausgeführt – rundliche Formen zu sehen, die trotz der Präzision entsprechenden Gegenständen nicht eindeutig zuzuordnen sind: vegetabile Elemente wie Früchte, Knospen oder Blüten lassen sich ebenso assoziieren wie abstrakte Elemente, die auch auf menschliche Körper rekurrieren könnten. In der rechten Hälfte des Bildes nimmt eine geschwungene, mit beigefarbenem Ocker konturierte Linie in höchst reduzierter Weise auf die Bleistiftzeichnung Bezug und überträgt das dort Angedeutete ins Organoid-Abstrakte.
Blickt man auf Weselys malerisches Werk um 1968, stellt man fest, dass diese Zeichnung so etwas wie eine Scharnierposition einnimmt. Denn hier gelten nun – zunächst unter Beibehaltung des Themas – ausschließlich die Gesetze der formalen Reduktion. Auf einer weiß grundierten Leinwand etwa, die dank der Aufteilung in längliche Zonen an die Zeichnung erinnert, erscheinen, über die Bildfläche verteilt, organoide Formen in den Farben Orange, Hellgelb und Hellblau, die – trotz ihrer Abstraktheit – mit Assoziationen an Blumen oder Körper spielen Abb. 43Abb. 43
.
In einem im gleichen Jahr entstandenen hochformatigen Ölbild fügen sich die klar voneinander abgesetzten Formen dann so, dass sich eine gelbe Blumenvase vor rosafarbenem Grund oder ein (überzeichneter) weiblicher Körper gleichermaßen assoziieren lassen Abb. 44Abb. 44
. Einfache oder mehrfache farbige Umrandungen der nun ganz und gar flächig behandelten Formen setzen Schwerpunkte und geben den Bildern Struktur. Die Palette – nun um Rosa-, Lila- und Pastelltöne erweitert – spielt mit Komplementär- und Hell-Dunkel-Kontrasten.
In einigen Arbeiten der späten 1960er-Jahre beginnen sich die Formen dann ins Ornamentale hinein zu verselbstständigen. Ein kreuzförmig in sich gegliederter blauer Kreis mit rosafarbenen Kompartimenten in der oberen Bildhälfte wird darunter befindlichen organoiden Formen gegenübergestellt. Hohlräume in diesem Bereich, die von lippenartigen Gebilden umfangen sind, könnten auf Blütenblätter von Knospen, dank der eierstockartigen Auswüchse aber auch auf das weibliche Geschlecht verweisen Abb. 45Abb. 45
. So, als habe man es im Bereich des Kreises mit einem ordnenden Prinzip der Vernunft, unten mit dem sich rationaler Kontrolle entziehenden Bereich des Lebens zu tun.
Doch die nun symmetrisch aufgebauten Kompositionen werden noch weiter reduziert Abb. 46Abb. 46
. Die Fülle prall-runder Formen aus den Zeichnungen findet in der Abstraktion der ornamental-flächigen Malereien eine Sublimierung. Zugleich verlässt Wesely in den Arbeiten dieser Phase die Bildfläche immer mehr zugunsten eines in Schichten aufgebauten Reliefs mit punktartigen Akzenten. Die Farbflächen sind nun glatt und glänzend lackiert und damit dem Handgearbeiteten enthoben.
Bezüge zum poppig-farbigen Design der späten 1960er-Jahre finden sich hier ebenso wie zur Minimal Art und – lokal betrachtet – zu den zeitgleichen, ebenfalls von der Minimal Art inspirierten Schichtungen eines Thomas Lenk, wenn auch bewusst fern von dessen geometrischer Konsequenz. Reliefarbeiten, die mit den Werten des Materials spielen (etwa von Holzlatten im Vergleich zu organoiden Formen Abb. 47Abb. 47
) oder konstruktiv-plastische Werte in Bezug zu Farben ausloten Abb. 48Abb. 48
, verdeutlichen, dass Wesely Ende der 1960er-Jahre sich ganz grundsätzlich verstärkt mit Fragen des Dreidimensionalen in Bezug zur Malerei beschäftigte – eine Tendenz die mit den Materialbildern ihren Anfang genommen und sich bis dato schon in manchen Kompositionen niedergeschlagen hatte, in denen es um die Auslotung räumlicher Bezüge in der Fläche ging.
1970–79
Bildhauerei in der Fläche
1970
Ästhetische Auseinandersetzungen zwischen Plastizität und Fläche
Sieht man sich die Arbeiten von Hans Wesely aus dem Jahr 1970 an, ist der Unterschied zum Ende des Vorjahrzehnts zunächst verblüffend: Auf großformatigen Bildern in beinahe quadratischem Format entwickeln sich nun monumentale, durch Schattierungen in makellosen Verläufen plastisch wirkende organoide Einzelformen. Bei ihrem Aufeinandertreffen kommt es zu Quetschungen, Faltungen, Schnitten. Die weitestgehend auf Weiß-, Schwarz- und Grautöne reduzierte Palette lässt nur vereinzelt pointierte Akzente in kräftigen Farben zu, die schließlich ganz verschwinden.
Doch was auf den ersten Blick als etwas gänzlich Neues erscheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen als die konsequente künstlerische Synthese von Weselys Fragestellungen der 1960er-Jahre unter neuen visuellen Vorzeichen. Das zentrale Thema der gedrängten Rundungen verbindet sich nun mit den Erfahrungen der formalen Reduktion in der Auseinandersetzung mit dem Dreidimensionalen. 3838
Für diese These spricht etwa eine Arbeit auf Papier, die zwar schon aus dem „Ornamentalen“ ausbricht, aber noch nicht ganz auf die Farbigkeit verzichtet Abb. 49. Allerdings weicht das Moment des Symmetrisch-Ornamentalen einer freien Entwicklung der organischen Grundform, wie sie schon in den Zeichnungen der späten 1960er-Jahre angelegt war. Die Reduktion der „psychedelischen“ Farbigkeit ins fast rein Schwarzweiße betont die Plastizität. Dank der starken Illusionskraft der organoiden Formen wird dem Auge des Betrachters ein latenter Bezug zur gegenständlichen Welt suggeriert, etwa zu Gelenken oder Körperformen (auch in der parallel entstehenden Druckgrafik 3939
Vgl. z.B. die entsprechenden Kaltnadelradierungen Abb. 50. In manchen der Zeichnungen aus dieser Zeit wird nach wie vor das vegetabile Element (abstrahierte Knospen und Blätter) stark betont Abb. 51.), doch lösen die Bilder das geweckte Bedürfnis nach einer eindeutigen Wiedererkennbarkeit nie ein.
Weselys Erfolg stieg in den 1970er-Jahren gewaltig an. Neben einer ganzen Reihe von Ausstellungsbeteiligungen – unter anderem bei der in den USA tourenden Schau „Stuttgart Graphic Artists“ – hatte er bedeutende Einzelausstellungen, die die zeitliche Entwicklung seiner in Serien entstandenen Arbeiten recht gut nachvollziehbar machen. Den Startpunkt bildete eine durch den Unternehmer und Sammler Paul Eberhard Schwenk vermittelte Schau im März und April 1970 in der gugelot design gmbh in Neu-Ulm, zu der auch ein Katalog erschien. Neben sieben Abbildungen von Weselys gemalten und gespritzten Ölarbeiten befindet sich darin auch ein Text des Herzogs zu Mecklenburg. Er sieht in den von Wesely eingesetzten „Großformen in Schwarz, Weiß und verschiedenen Graus, zwischen denen ein kleineres, starkfarbiges Formelement zermalmt wird, oder das diese zu zersprengen droht“, Sinnbilder einer Auseinandersetzung des Künstlers mit der „Aggression und permanente[n] Bedrohung“ seiner Zeit. 4040
Vgl. den Text des Herzogs zu Mecklenburg in dem Katalog zur Ausstellung von Hans Wesely bei gugelot design in Neu-Ulm, 14.3.–17.4.1970
Tatsächlich liegt der Schwerpunkt der Reproduktionen im Katalog auf Arbeiten, bei denen größere und kleinere Formen so Druck aufeinander auszuüben scheinen, dass Quetschungen – bis hin zum spaltartigen Bruch – entstehen Abb. 52Abb. 52
. 4141
Es handelt sich um das letzte Bild im Katalog, das als Original noch im Archiv Wesely existiert; vgl. auch die zeitgleich entstehenden Siebdrucke Abb. 53, Kaltnadelradierungen Abb. 54 und Zeichnungen Abb. 55. Da Wesely den Text des Autors vor der Veröffentlichung selbst überarbeitet hatte, darf man annehmen, dass er mit einer solchen Deutung einverstanden war. In dem einen oder anderen der Bilder kommen jedoch neben organisch-plastischen Formen auch flächige, teils sogar kantige Elemente zum Einsatz, die gefaltet, gebogen oder eingeschnitten zu sein scheinen und die auf diese Weise auch andere im Bildraum wirkende Kräfte untersuchen: Etwa die Konfrontation von Zweidimensionalem und Dreidimensionalem, die der Herzog zu Mecklenburg in seinem Text ebenfalls als „wesentlich“ für Weselys Schaffen charakterisiert.
Die Auseinandersetzung mit Flächigkeit und Plastizität findet ihre Fortführung in Arbeiten, die Wesely wohl erst nach der Schau bei gugelot gefertigt haben dürfte. Weiße Formen fügen sich darin – nun ohne jeden farblichen Akzent – zu geschichteten, papierartigen Flächen, die sich in wuchtig, teils plastisch wirkende schwarze Formen einschneiden (vgl. Abb. 56Abb. 56
). Zugleich scheinen die schwarzen Verdichtungen die weißen Partien auch wie herauszubrechen. 4242
Es existieren Zeichnungen, die diese Kompositionen vorbereiten oder begleiten, z.B. Abb. 57. Jeweils mit „aktion“ betitelt und durchnummeriert, lassen sich auch die Bilder dieser Serie als Versuchsanordnungen auffassen, in denen Konfrontationen malerischer Elemente (oft gegensätzlicher Natur) in die Wege geleitet und die daraus resultierenden Reaktionen untersucht werden. Die Kompositionen werden komplexer und gewinnen einen fast surrealen Charakter: Denn ähnlich wie bei M.C. Escher lässt sich oft nicht genau sagen, welche Elemente nun vorn, welche hinten im Bildraum anzusiedeln sind. Auch ist bei den schwarzen, geschlossenen Formen (die vereinzelt den gesamten Hintergrund bilden Abb. 58Abb. 58
) oft nicht eindeutig zu entscheiden, ob es sich um plastische Wölbungen, Flächen oder gar Hohlräume handelt Abb. 59Abb. 59
. Jede Stelle im Bild suggeriert Unterschiedliches. Die visuellen Erwartungen des Betrachters werden auf diese Weise immer wieder von Neuem ad absurdum geführt.
1971/72
Schnitt und Illusion
Die Serie der „aktionen“Abb. 60Abb. 60
setzt sich im Jahr 1971 fort, wobei die Formen spitzer werden, die Flächen nun immer stärker gefaltet erscheinen und sich zum Teil zu scheinbar plastischen Körpern einzurollen beginnen Abb. 61Abb. 61
. „Assoziationen an ausgeschnittene Papierflächen, versehen mit Einschnitten und zu Faltungen oder Formen stärkerer Plastizität gebracht, liegen nahe“, urteilt Wolfgang Velzmer in einem Text zur Ausstellung in der Galerie am Jakobsbrunnen in Stuttgart-Bad Cannstatt im Oktober 1972. 4343
Vgl. die Einladungskarte zur Ausstellung in der Galerie am Jakobsbrunnen in Stuttgart Bad-Cannstatt, 4.10.–24.10.1972, Archiv Wesely In den Arbeiten dieses Jahres scheint es manchmal sogar, als sei der Bildgrund aufgeschlitzt worden, wodurch sich Teile davon einzurollen beginnen Abb. 62Abb. 62
.
Dank der regen Ausstellungstätigkeit Weselys in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre sind einige Kritiken in der Tagespresse erhalten geblieben, aus denen hervorgeht, dass das Moment des „Zerstörerischen“ in den Bildwelten von Hans Wesely und eine gewisse Nähe zu Lucio Fontana den Zeitgenossen nicht verborgen geblieben war. So wird in einem Artikel der Stuttgarter Zeitung im Oktober 1970 anlässlich der ersten Ausstellung in der Bad Cannstatter Galerie am Jakobsbrunnen von „Durchbrechungen von Weiß“ gesprochen – und, wortwörtlich, von dem Schwarz, das Wesely so einsetze, „wie Fontana das Messer“ gebrauche, nämlich „um die Fläche zu zerstören“. 4444
Vgl. „In den Galerien“, in: Stuttgarter Zeitung, Oktober 1970, Archiv Wesely
Die Allgemeinen Zeitung Mainz titelt anlässlich der Ausstellung im Kunstkreis NOVO im Jahr 1972 ebenfalls ganz direkt mit „Ästhetische Zerstörungsaktionen“. Auf einen Vergleich mit Fontana verzichtet der Autor hier allerdings. Tatsächlich erweist sich die Nähe zu Fontana bei genauerem Hinsehen mehr als eine äußerliche. Denn die radikale Setzung des Italieners, mittels „zerstörerischer“ Schnitte nicht nur den Umraum des Bildträgers, sondern auch den Körper des Künstlers (als Geste) zum unmittelbaren Teil des Bildes zu machen, wird von Wesely wieder ganz auf die ästhetisch-malerische Ebene zurückgeführt: Wie zuvor auch die Quetschungen und Faltungen werden die illusionistischen Schnitte zunächst nicht von außen zugefügt, sondern – bildimmanent – durch die Einwirkung der Elemente im Bildraum aufeinander erzeugt. Erst gegen Ende dieser Entwicklung entstehen Arbeiten, die es erscheinen lassen, als habe jemand von außen eingegriffen, was ab 1972 aber in einer neuen Konzeption des Bildraums mündet.
1972–80
Farbe, Landschaft, Konstruktion
Mit seinen beinahe reliefartigen Schwarzweißbildern hatte sich Wesely in den frühen 1970er-Jahren weit von den malerischen Konzepten vieler seiner Zeitgenossen entfernt. Stattdessen arbeitete er an Fragen, die denen der Bildhauerei nahestanden. Das verdeutlicht zum Beispiel ein Vergleich mit den großen, in Edelstahl ausgeführten „Knickungen“ und „Faltungen“ eines Erich Hauser oder den weniger bekannten „Quetschungen“ in Marmor von Reinhold G. Müller. 4545
Vgl. z.B. die Abbildung von Müllers „Quetschung“ aus dem Jahr 1976 in: Günther Wirth: Kunst im deutschen Südwesten – Von 1945 bis zur Gegenwart, Stuttgart 1982, S. 260, Abb. 287 Allerdings war Wesely auf seiner Suche nach der plastischen Form in einem sich durch Schnitte und Faltungen auflösenden Bildraum um 1971 offenbar auf neue Fragen gestoßen. Denn nun begann in manchen Arbeiten auf Papier über den abstrahierten „Einschnitten“ wieder Farbe aufzuschimmern – fast so, als wäre am Horizont ein Stück blauer Himmel oder ein winziger Ausschnitt des Meeres sichtbar Abb. 63Abb. 63
.
Ab dem darauffolgenden Jahr konkretisiert sich diese Andeutung in Ölbildern, die den Ansatz weiterführen. Vermittelt über einen dünnen, schwarzen Mittelgrund, trifft in einer Arbeit aus dem Jahr 1972 eine graublaue Hintergrundfläche auf die von eingerollten Einschnitten und Überlappungen geprägte Hauptpartie im Vordergrund des Bildes: Die Assoziation einer abstrahierten Landschaft formt sich im Auge des Betrachters Abb. 64Abb. 64
, was in weiteren Bildern eine Fortsetzung findet: 1972 etwa als „aufgesplitterte“ Wüste unter rotem Himmel, in dem eine (erloschene?) Sonne schwebt Abb. 65Abb. 65
, oder ein Jahr später in einem Ölbild, in dem – unter einem nun dunkelrot glühenden Himmel mit Sonnenkreis – eine weiße „Landschaft“ erscheint – die für sich betrachtet auch wieder als ein illusionistisch eingeschnittenes Blatt Papier lesbar ist Abb. 66Abb. 66
. Im Laufe der Zeit (und insbesondere in den Aquarellen bzw. Pittstiftzeichnungen) werden die Landschaften etwas konkreter, wobei die in meist weiße, abstrakt-monumentale Formen gegossenen Berge und Hügel gegen Ende der 1970er-Jahre kristallin gebrochen erscheinen – fast als hätte Lyonel Feininger hier Pate gestanden Abb. 67Abb. 67
.
Vorbereitet wurden derlei Strukturen, die nur noch bedingt an die Papierillusionen erinnern, schon in geometrisch-konstruktiven Kompositionen aus dem Jahr 1972. Aus dieser Zeit haben sich Siebdrucke erhalten, die mit Variationen des Dreiecks (das sowohl Fläche als auch Hohlraum sein könnte) und dessen Verortung im Bildraum spielen Abb. 68Abb. 68
. In den entsprechenden Federzeichnungen sind die gänzlich monochromen und flächigen Hintergründe durch schraffierte Verläufe ersetzt, in denen sich zugleich eine Rückkehr zu einer lebendigeren, gestischen Behandlung des „Himmels“ in den abstrahierten Landschaftsbildern andeutet Abb. 69Abb. 69
. Auch die Faltungen und Quetschungen aus der Zeit um 1970 spielte für die abstrahierten Landschaften der späten 1970er-Jahre eine Rolle, wie verschiedene Bleistift- und Tuschezeichnungen insbesondere aus dem Jahr 1977 zeigen Abb. 70Abb. 70
.
Dennoch ist Weselys Auseinandersetzung mit dem Thema „Landschaft“ in den 1970er-Jahren fern von konkreten Verweisen auf geografische Realitäten außerhalb des Bildes. Vielmehr geht es ihm auch hier darum, die Möglichkeiten der malerischen Mittel selbst und mit ihnen den Bildraum zu untersuchen: Allein durch die Einführung einer Horizontlinie oder eines Mittelgrundes, die das Bild aufteilen, wird Räumlichkeit erzeugt. Ist sie einmal im Bild, genügen kleinste farbliche oder formale Eingriffe, um eine „Landschaft“ zu assoziieren – selbst dann, wenn ein großer Teil des Bildes gänzlich abstrakt ist oder für sich genommen an etwas ganz anderes erinnert. Auch Bildkonzepten, bei denen ohne Horizontlinie eine Landschaft im Auge des Betrachters entsteht, geht Wesely Ende der 1970er-Jahre nach Abb. 71Abb. 71
.
In einem schönen Artikel aus dem Jahr 1977 schreibt der Kunstexperte Rudolf Greiner: „Landschaft ist bei Wesely gleichsam nur der Bühnenraum auf dem künstlerische und ästhetische Möglichkeiten, die dem Künstler am Herzen liegen, dem Betrachter vorgeführt werden“. 4646
„Jenseits der überbrachten Perspektiven“, in: Hohenzollersche Zeitung, 21.1.1977 Im Aufeinanderprallen von „amorphen, tachistisch verwendeten Farben“ und „durchkonstruierten Bildteilen“ erkennt der Autor eine „Synthese zwischen Tachismus und Konstruktivismus“ – ein Moment, das das Werk des Künstlers schon seit dem Studium bei Willi Baumeister auf immer wieder neue Weise prägt.
1980–83
Stillleben und Landschaft in neuem Duktus
In einigen Arbeiten aus dem Jahr 1980 ist eine Art „kubistischer“ Kelch mit runden Früchten Abb. 72Abb. 72
zu sehen. Das Eschersche „Vexierspiel“ mit Raum und Fläche, das die Arbeit Weselys schon seit den frühen 1970er-Jahren prägte, findet auch in diesen Stillleben seine Fortsetzung: Die Andeutung einer Zentralperspektive im Hintergrund wird dank der Flächenverläufe ad absurdum geführt und lässt diese Bilder zugleich zu Variationen eines Themas werden, das sich kurz zuvor in den „kristallinen“ Bergen konkretisiert hatte. Eine in lockerem Duktus und in gebrochenen Grün-, Grau- und Brauntönen auf die Leinwand geworfene, unsignierte und undatierte Stillleben-Studie dürfte im selben Kontext entstanden sein Abb. 73Abb. 73
. Sie verzichtet allerdings auf Raumillusionen und stellt stattdessen die Möglichkeiten des freien Pinselstrichs in den Vordergrund. Diese Qualität zeichnet auch Weselys „Landschaften“ bis 1982 aus. Zwar erscheinen hier noch große glatte Flächen, die von Einschnitten eingekerbt sind, vor den lebendig schraffierten Partien. Die „Schnitte“ werden nun aber eher zu Spalten in schwarzen Felsen oder in Hügeln vor einem dramatisch erleuchteten, wolkenverhangenen Himmel.
In einer Serie, in der sich weiße, den Bildraum beruhigende und ordnende Flächen vor einen dunkelbraunen Hintergrund schieben Abb. 74Abb. 74
, rhythmisiert der ausdrucksstarke Duktus des Pinsels schließlich Vorder- und Hintergrund gleichermaßen.47 47
1983 setzt Wesely Arbeiten mit diesem Duktus – dem Medium angepasst – auch als Siebdrucke um. Abb. 75 76 77 78 79Die starken Hell-Dunkel-Kontraste, die Monumentalität der abstrakt-reduzierten Formen, die Dunkelheit des „Himmels“ und auch das völlige Fehlen menschlicher Figuren, lassen die düster-emotionalen Aspekte der Serie in den Vordergrund treten. Und so mag es erscheinen, als sei die rhythmische Struktur nur noch eine Erinnerungen an vielleicht vormals in der „Landschaft“ vorhandenes Leben. Paul-Eberhard Schwenk, der Wesely 1982 gemeinsam mit einer Kollegin und einem Kollegen zu einer Ausstellung in seine Haigerlocher PES Galerie eingeladen hatte, deutet die „Spalten und Risse“ denn auch als Sinnbilder für „Gefahr und Bedrohung, ja sogar für Jenseitsstadien“ 4848
„Drei Künstler stellen sich vor“, Artikel [ohne Herkunftsangabe] anlässlich der Ausstellung von Ursula Stock, Walter Dambacher und Hans Wesely in der PES Galerie im Schloss Haigerloch, 9.9.–9.10.1982, Archiv Wesely – ein fast prophetischer Blick in eine Richtung, in die sich das Werk Hans Weselys von nun an immer mehr entwickeln sollte.
1982–87
Zwischen Informel und Neoexpressionismus
1982/83
Visuelle Eruptionen
Noch im Jahr 1982 kommt es zu einer überraschenden Zäsur in Weselys Werk: Die konstruktiv-abstrakten Elemente verschwinden völlig und machen einer Handschrift Platz, die ganz aus dem individuellen Duktus schöpft. Schwarze Formen graben sich in der Mitte einer Arbeit ohne Titel in schmalen Furchen tief in ein helles Erdreich ein und reißen es auf, so dass es zum Himmel hin ausfranst Abb. 80Abb. 80
. Enorme Kräfte scheinen hier am Werk zu sein, deren Bewegung sich über der aufgerissenen Erde in den rhythmischen Wellen der geschwärzten Wolken fortsetzt. Pastos aufgetragene fahl-gelbliche Partien kontrastieren mit den in schwarzer Kreide schraffierten Schattierungen, die die beiden Bildhälften voneinander trennen und in der zentralen Bewegung zugleich auch zusammenbinden.
Ein Gemälde aus dem Jahr 1983 dynamisiert die Bewegung bis ins Eruptive hinein Abb. 81Abb. 81
: Zu Seiten eines zerfetzten schwarzen Loches, aus dem Masse aufsteigt, werden rötlich eingefärbte Erdpartien regelrecht nach oben gerissen. Sie reflektieren sich in den Wolken über dem dramatischen Ereignis, die nun fast bis zur Formlosigkeit chaotisiert sind. Schlieren und amorphe Formen kontrastieren mit gestischen Pinselstrichen und Akzentuierungen in schwarzer Kreide.
Mit den früheren Arbeiten Weselys haben diese emotional-eruptiven Gemälde vordergründig nichts mehr gemein: Die konstruktive, den Bildraum ordnende Form tritt zugunsten des Chaotisch-Gestischen vollständig zurück. Zugleich rückt die Farbe, die in den 1970er-Jahren noch vorwiegend „zum Steigern von Formen“ gedient hatte, als eigenständige malerische Qualität immer mehr in den Fokus des künstlerischen Interesses. 4949
Vgl. den Text des Herzogs zu Mecklenburg in dem Katalog zur Ausstellung von Hans Wesely bei gugelot design in Neu-Ulm, 14.3.–17.4.1970 Auf einer konzeptuellen Ebene jedoch knüpfen auch die Arbeiten der frühen 1980er-Jahre an die Gemälde der 1970er-Jahre an: Wieder werden Horizontlinien gespalten, wieder „ereignet“ sich Bedrohlich-Zerstörerisches in einem Bildraum, den Wesely als „lebendigen Organismus“ begreift, als eine Realität, die „für sich steht“ 5050
„Den Horizont explosiv durchbrechend“, in: Hohenzollerische Zeitung, 4.5.1985 – und der so zu einem „Spiegel der Wirklichkeit“ 5151
Ehrenfried Kluckert in der Eröffnungsrede zu einer Ausstellung in der Bisinger Hohenzollernhalle, zit. nach: „Farbschwelgereien und verhaltene Aquarelle“ in: Schwarzwälder Bote, 21.5.1985, zu einem „Gleichnis der Zeit“ 5252
„Kunst als Gleichnis der Zeit“, in [Artikel ohne Herkunftsangabe], 20.5.1985, Archiv Wesely werden kann. „Auflösen, Zerreißen, Verletzen, einen Horizont aufbrechen“, so urteilt die Hohenzollerische Zeitung in einem – anlässlich einer Ausstellung in Bisingen – veröffentlichten „Werkstattgespräch“ vom 4. Mai 1985, „sind Kennzeichen der Bilder von Wessely [sic!], womit dieser zum Ausdruck bringen möchte, daß die Gesellschaft im Fluß ist.“ 5353
„Den Horizont explosiv durchbrechend“, in: Hohenzollerische Zeitung, 4.5.1985
Ob sich die Bilder des Künstlers aus den 1980er-Jahren tatsächlich allein als Reflexionen gesellschaftlicher Prozesse deuten lassen, ist allerdings fraglich. Schon die vergleichsweise plötzliche und radikale Hinwendung zu einer expressiv-gestischen Malerei, deren freier Duktus sich um 1984 noch steigert, legt nahe, dass dem „Durchbrechen von Grenzen und Horizonten“ 5454
So paraphrasiert der Autor der Hohenzollerischen Zeitung (ew) Hans Wesely; vgl. „Den Horizont explosiv durchbrechend“, in: Hohenzollerische Zeitung, 4.5.1985 in Weselys Bildern mindestens in gleichem Maße subjektiv erlebte Prozesse zugrundeliegen. „Eine Welt tut sich auf“, urteilt etwa der Schwarzwälder Bote anlässlich der Bisinger Ausstellung, „in der ganz offenbar die innersten, tiefsten Strömungen des seelischen Innenlebens Weselys an eine Oberfläche drängen, die bei äußerlicher Ruhe des Malers seine innere Bewegung vehement verrät.“ Parallelen zur Musik und zur Science-Fiction- oder Fantasy-Literatur, werden gezogen, wo es – wie in Weselys Malerei – in „frappante[n] Visionen eruptiver Ereignisse“ um die „Bedrohung des äußeren wie des inneren Menschen“ gehe.5555
„Farbschwelgereien und verhaltene Aquarelle“ in: Schwarzwälder Bote, 21.5.1985
1983–86
Landschaft als „Symbolträger der Psyche“
Allerdings sind bei weitem nicht alle Bilder Weselys aus der ersten Hälfte der 1980er-Jahre durch ein „eruptives“ Moment gekennzeichnet. Der Spannungsbogen reicht von gestisch-bewegten Vermittlungen zwischen „Himmel“ und „Erde“ über atmosphärische Stimmungsbilder bis hin zu großformatigen, teils pastos in Öl gemalten Farbräumen. Ein ganz in Blau gehaltenes Ölbild aus dem Jahr 1983 etwa trägt den Titel „Hydra“ und eröffnet so einen mythologischen Assoziationsraum Abb. 82Abb. 82
. In einer Fläche aus tiefem Ultramarinblau ist eine schmale Figur mit Brüsten angedeutet, deren obere Partie weniger einer Vielzahl von Köpfen gleicht als vielmehr einem Kranz von Ästen, die sich strahlenartig über dem stammartigen Körper ausbreiten. Die Ausgewogenheit der Komposition und die Ruhe der Farbigkeit stehen in starkem Kontrast zur tödlichen Gefahr, die man mit dem schlangenähnlichen Ungeheuer aus der antiken Mythologie verbindet. Die energetisch vibrierenden Linien lassen jedoch auf eine starke Anspannung schließen. Vielleicht darf man Weselys „Hydra“ – wie schon früher die Sphinx (deren Schwester sie in der griechischen Mythologie ja ist) – als eine der Hüterinnen der Kunst deuten, deren verführerische Kraft dem Maler zugleich Antrieb und Gefahr ist: Je mehr er sie zu überwinden glaubt, desto herausfordernder, anspruchsvoller und damit gefährlicher wird sie ihm.
Aus den „Eruptionen“ von 1983 entwickeln sich in einer Serie ein Jahr später farbig-schwarze Wirbel, deren gestische Pinsel- und Kreidestriche sowie zufällig erzeugte Farbkleckse zum zentralen Bildgegenstand werden, Abb. 83Abb. 83
: Tachismus in Reinform auf den ersten Blick – nur anhand des Verdichtungsgrades der Farbe lässt sich hier so etwas wie ein „Oben“ und „Unten“ und somit das Landschaftsmotiv ausmachen.
Andere Arbeiten aus der gleichen Zeit thematisieren diesen Austausch zwischen Himmel und Erde in ruhigerer Weise. Oft scheint es, als wäre aus den aufgerissenen Löchern der „Eruptionen“ laschenartige Auswüchse geworden, die weit in den Himmel hineinragen, in gleicher Weise aber als Hohlräume auch tief ins Erdreich greifen. Im oberen Bildbereich interagieren sie zum Teil mit anderen amorphen Formen Abb. 84Abb. 84
. Oder es bildet sich eine lebendig-vibrierende Übergangszone, in der „Wolken-“ und „Erdpartien“ miteinander verschmelzen Abb. 85Abb. 85
. Die Farbigkeit bewegt sich meist zwischen Schwarz-, Weiß-, und gelblichen Ockertönen, zuweilen spielt ein leuchtendes Blau hinein, wodurch die Himmelsassoziation verstärkt wird. Landschaft, so darf man zusammenfassen, wird bei Wesely zu Beginn der 1980er-Jahre zu einem „Bildraum“, in dem „mehr als früher Emotionales eingebracht wird.“ 5656
Günther Wirth: Kunst im deutschen Südwesten – Von 1945 bis zur Gegenwart, Stuttgart 1982, S. 178
Um 1985 wird der Strich nervöser. Zahllose, oft an Kritzeleien grenzende, einander überlagernde Schraffuren, Striche, Punkte und Verwischungen formen sich zu Gebilden, die an Berge vor einem bedrohlichen Himmel Abb. 86Abb. 86
, vom nächtlichen Sturm gepeitschte Büsche oder vegetabile, sich nach oben hin auflösende Verdichtungen erinnern Abb. 87Abb. 87
. Die Atmosphäre als vermittelnder Bereich zwischen Himmel und Erde nimmt immer mehr Raum ein und erscheint in der Übermacht der dort wirkenden Kräfte bedrohlich: Ob in einem Ölbild mit leuchtend gelbem Himmel über einem zur schwarzen Silhouette reduzierten Horizont oder in einer Arbeit in Mischtechnik, wo Nebelschleier über einem öde und verfault erscheinenden Boden nur wenige Strahlen der schmutzigen Sonne passieren lassen. Das Landschaftsbild mit seinen atmosphärischen Stimmungen entwickelt sich immer mehr zu einem „Symbolträger für die Psyche“. 5757
Günther Wirth gebraucht diese Begrifflichkeit in Bezug auf die zerfurchten Landschaften von Wolfgang Henning aus der gleichen Zeit; vgl. Günther Wirth: Kunst im deutschen Südwesten – Von 1945 bis zur Gegenwart, Stuttgart 1982, S. 181 Eine Tendenz die sich um das Jahr 1986 in Seestücken fortsetzt, in denen das Aufeinandertreffen von bewegten Wellen, Wolken und Licht auf immer neue Weise variiert wird Abb. 88Abb. 88
.
Die 1986 entstehenden Landschaften werden zugleich abstrakter. Eine grobe Aufteilung in zwei Bildzonen in gebrochenen Brauntönen genügt, um Himmel und Erde anzudeuten. Grob auf der Leinwand platzierte Flecken von schmutzig-erdiger Farbe Abb. 89Abb. 89
oder gestisch gesetzte Kohlestriche geben dem jeweiligen Bild Struktur. Die Sonne erscheint nur noch als Fleck oder als ein durch Linien angedeutetes Kraftgebilde. Ein energetisches Vibrieren durchzieht die Arbeiten um die Mitte der 1980er-Jahre, fast als dränge etwas durch die Bildwirklichkeit, das sich rational nicht fassen lässt.
1985–87
Figuration und religiöse Visionen
Schon ab 1985 entstehen Arbeiten, in denen diese transzendente Dimension sich in angedeuteten Figurationen niederschlägt: Die laschenartigen Auswüchse, die sich formgenetisch aus den „Eruptionen“ gebildet hatten, verbinden sich nun zu Körperformen und lassen – umgeben von dramatischen atmosphärischen Ereignissen – das Motiv der Kreuzigungsgruppe im Bildraum erscheinen Abb. 90Abb. 90
. 5858
Das Bild wurde 1985 im Schwarzwälder Boten veröffentlicht. Allerdings wird in dem Begleittext nicht auf das christliche Motiv Bezug genommen; vgl. „Farbschwelgereien und verhaltene Aquarelle“ in: Schwarzwälder Bote, 21.5.1985 Sind es in den meisten Arbeiten Weselys ausschließlich abstrakte oder an Landschaften erinnernde Bildelemente, die zwischen einem „Oben“ und „Unten“ vermitteln, tritt nun eindeutig Christus als Mittlerfigur an diese Stelle. Die Worte „es war um die 12. Stunde“ verweisen – wie der geschwärzte Himmel – auf die Evangelien, in denen übereinstimmend von einer dreistündigen Finsternis zur Zeit der Kreuzigung die Rede ist. 5959
Dass Wesely nicht „sechste“, sondern „12. Stunde“ schrieb, mag vielleicht damit zusammenhängen, dass nach antiker Zählung die „sechste“ Stunde den Mittag bezeichnete.
Das Kreuz hinter der Christusfigur ist allerdings nicht eindeutig zu sehen. Stattdessen breitet die Gestalt die Arme über ihrem Haupt aus, als sei sie im Begriff aufzuerstehen. Wesely ging es offenbar in den Bildern mit religiöser Motivik nicht um eine „korrekte“ Illustration des biblischen Inhalts. 6060
Wesely war 1973 aus der Kirche ausgetreten (vgl. die Kirchenaustrittserklärung vom 27.11.1973, Achiv Wesely). Auch dies spricht für einen individuelleren, durch seine künstlerische Arbeit geprägten Zugang zu religiösen Motiven jenseits konfessioneller Konventionen. Dafür sprechen auch andere künstlerische Annäherungen an dieses Motiv. Etwa eine Arbeit, in der die durch Schraffuren in Rötel angedeuteten Körper aller drei Gekreuzigten im rötlich-braunen Hintergrund wie aufzugehen scheinen Abb. 91Abb. 91
. Und, in anderer Weise, eine Arbeit, in der die mit wenigen Strichen angedeutete Christusfigur als Auferstandener durch eine weitgehend in nebliges Grau getauchte Landschaft zu schweben scheint und sie durch sein Erscheinen mit Licht und Farben erfüllt Abb. 92Abb. 92
.
Die religiösen Motive, auf die Wesely hier Bezug nimmt, erfahren in seiner Arbeit also eine individuelle Deutung: Was zuvor als Kampf zwischen „Himmel“ und „Erde“ oder als „Atmosphäre“ visualisiert wurde, findet nun seinen Ausdruck in einer Figuration mit einer mythisch-kosmischen Dimension. Diese Vertiefung legt nahe, dass der vielleicht schon erahnte Tod des Künstlers im Jahre 1987 mit in die Realisierung hineinspielte.
Dennoch sind die Bilder mit religiöser Motivik nicht außerhalb von Weselys übrigem Werk anzusiedeln. Als Baumeister-Schüler ist ihm der Bildraum ein „Organismus, der für sich steht“ 6161
„Den Horizont explosiv durchbrechend“, in: Hohenzollerische Zeitung, 4.5.1985 und zum Gleichnis der Fragen und Auseinandersetzungen seiner Zeit werden kann: 6262
„Kunst als Gleichnis der Zeit“, in [Artikel ohne Herkunftsangabe], 20.5.1985, Archiv Wesely Nehmen die Arbeiten der 1970er-Jahre mit ihren bedrohlich aufeinander einwirkenden plastischen Großformen eher auf die äußeren Zeitverhältnisse Bezug, setzen sich die expressiv-gestischen Bilder der 1980er-Jahre verstärkt mit der emotional-subjektiven Weltwahrnehmung des Künstlers auseinander. Das Christusmotiv schließlich darf man vielleicht im Kontext mit den Exkursen Weselys zur antiken Mythologie sehen. Doch anders als die Hydra oder die Sphinx, die den Künstler (und damit letztlich den Menschen) auf sich selbst und sein (vergebliches) Schaffen zurückwerfen, wird das Motiv des auferstehenden Christus bei Wesely zu einem Sinnbild der Vermittlung zwischen gegensätzlichen Kräften, die in der Welt wirken. Auch in seiner Bildwelt, die sich zwischen den Polen Informel und konstruktiven Tendenzen immer wieder neu erfand. Über den Autor
Winfried Stürzl, geb. 1967, studierte Kunstgeschichte und Romanistik an der Universität Tübingen. Er lebt und arbeitet als freier Kunstvermittler, Lektor, Autor und Kurator in Stuttgart.
www.kunst-kommunikation.info
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1950–57 Studium und Begegnung mit Willi Baumeister
1951–53 Von Kaiserslautern über Darmstadt nach Stuttgart
1953–55 Bei Willi Baumeister an der Stuttgarter Akademie
„Wir malen keine Bilder, wir studieren“
1956/57 Auf eigenen Füßen in Urach
1958–65 Zwischen Informel und konstruktiven Tendenzen
1958–59 Materialbilder
1960–61 Rhythmische Strukturen
1961–65 Stillleben
um 1964 Text, Schrift und Graphismen
Lyrik und Malerei
Zeichen und Bild
1964–68/69 Im Reich der Rundung
um 68/69 Exkurse ins farbintensive Relief
1970–79 Bildhauerei in der Fläche
1970 Ästhetische Auseinandersetzungen zwischen Plastizität und Fläche
1971/72 Schnitt und Illusion
1972–80 Farbe, Landschaft, Konstruktion
1980–83 Stillleben und Landschaft in neuem Duktus
1982–87 Zwischen Informel und Neoexpressionismus
1982/83 Visuelle Eruptionen
1983–86 Landschaft als „Symbolträger der Psyche“
1985–87 Figuration und religiöse Visionen